Ensemble Laude Novella ELNCD-0302: Den Bakvända
Visan
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'Mein
Anfang ist mein Ende' - Kreuz und quer durchs Mittelalter
Für
einen Komponisten des Mittelalters war die musikalische Form von großer
Bedeutung. Die formes fixes, die von den Troubadouren herstammenden poetischen
Formen des 14.und 15. Jahrhunderts wie virelai, ballade und rondeau erscheinen
besonders in auskomponierter Form oft labyrinthisch mit all ihren komplizierten
Wiederholungen. Wenn man damit Mehrstimmigkeit und neue Notationssysteme
kombiniert, ergeben sich völlig neue Möglichkeiten, und die Folge ist
eine ungeheure Neugier und Lust zum Experimentieren von Seiten der Komponisten.
Die Ars Nova des späten 14. Jahrhundert brachte Musik hervor, die an Erfindungsreichtum
und Komplexität erst im 20. Jahrhundert übertroffen wurde.
Genau wie wir modernen
Menschen sangen auch die Menschen im Mittelalter gerne Kanon. In Guillaume
Dufays 'Par droit' sind die Oberstimmen als Kanon komponiert,
wie auch in 'La harpe de melodie'. Dieses Stück ist auch ein
schönes Beispiel für sog. Augenmusik, es ist nämlich in Form einer Harfe
notiert, wobei die Saiten die Notenlinien darstellen! In diesem Falle
muß man auch genauestens auf die "Gebrauchsanweisung" (siehe den Text
zu Nr. 14) achten, die sich um den Harfenkörper schlingt: ohne sie haben
die Sänger keine Möglichkeit das Stück korrekt auszuführen. Auch die
italienische caccia 'Chosi pensoso' ist ein Kanon,
in dem die Oberstimmen einander "jagen". 'I nattlig timma' ('Le
ray de soleil') ist auch ein Kanon, doch ein etwas mehr kompliziertes
Modell: hier wird die gleiche Stimme dreimal gleichzeitig gespielt,
doch in verschiedenen Taktarten, ein sog. Mensuralkanon. Störtebeker
(Quod jactatur) ist ein schönes Beispiel für einen recht misslungenen
dreistimmigen Kanon: die Dissonanzen sind fast unerträglich!
Oder man ließ die
Melodie zwischen verschiedenen Stimmen hin und her wechseln, wie in
dem Lied über die biblische Figur Sackeus ('Zacheus arboris')
aus dem Schulgesangbuch Piæ Cantiones: der erste Teil der Harmonie
passt harmonisch mit dem zweiten Teil zusammen. 'Ce rondelet'
ist auf die gleiche Art komponiert. Doch der vollendete (auf jeden Fall
der eleganteste!) Kanon ist wohl 'Tout par compas', notiert
in Form eines Kreises und mit der "Gebrauchsanweisung" im Text.
Doch
diese Lust zum Experimentieren beschränkte sich nicht auf Kanons. 'Vous
soyés tres bien venus' und 'Amor potest' sind beide in
Ostinato-form geschrieben, wobei die relativ kurze Melodie
der Tenorstimme immer wieder wiederholt wird. Die isorhythmische Motette
des späten Mittelalters ist auch ein schönes Beispiel: man nahm eine
einstimmige liturgische Melodie, rhythmisierte diese nach einem gewissen
Muster, und komponierte zwei oder drei Stimmen dazu, auch diese in bestimmten
rhythmischen Mustern. Die ursprüngliche Melodie, der tenor, wurde mehrfach
gespielt, vielleicht im doppelten Tempo, im halben Tempo, und warum
nicht rückwärts?
Wenn
alle Stimmen einander zugeordnet waren, sollte die Motette mit all ihren
verschiedenen rhythmischen Mustern eine perfekte Einheit ergeben: alles
zum Lobe Gottes. Alle haben wir uns wohl schon mal mit Wortspielereien
beschäftigt und vergnügt: wie mag es klingen, wenn man dieses oder jenes
Wort rückwärts liest? Manche Wörter klingen gleich, egal ob man sie
von hinten oder von vorne liest: es sind sog. Palindrome wie z.B. Radar
oder Elle. Solche Spielereien haben auch die Menschen im Mittelalter
und die damaligen Musiker fasziniert.
Das berühmteste
Beispiel ist wohl Guillaume de Machauts 'Ma fin est mon commencement'
( Mein Anfang ist mein Ende), in dem die Stimmen sowohl vor- als auch
rückwärts gespielt werden müssen, wobei der Liedertext dafür die Anweisungen
liefert. 'O dolze conpagno' ist auch ein Beispiel einer solchen
retrograden Komposition aus dem Spätmittelalter.
Warum
dieses enorme Interesse für Form? Die Musik war eine der sieben freien
Künste, septem artes liberales, die während der Antike, aber
auch im Mittelalter das Fundament für die höhere Ausbildung darstellten.
Zusammen mit Geometrie, Arithmetik und Astronomie war die Musik eines
der vier Fortsetzungsfächer und gehörte also zu den Naturwissenschaften.
Hierbei sollte die spekulative Seite der Musik untersucht werden: wie
die Bewegungen der sieben Himmelskörper die sphärischen Harmonien hervorriefen,
welche Töne sie erzeugten und warum das menschliche Ohr diese himmlischen
Klänge nicht wahrnehmen konnte ….Mit diesem Hintergrund war man der
Auffassung, ein polyphoner Satz könne dieses Phänomen beschreiben oder
wenigstens einen blassen Widerschein dieses wunderbaren Universums hervorrufen,
wobei die perfekten Zahlenverhältnisse die Harmonie der Welt symbolisieren.
Die christlichen Gelehrten übernahmen viele dieser antiken Gedanken,
doch hier wird die Harmonie der Sphären eher als Beweis für die Existenz
Gottes angesehen.
In einer
Welt ohne Fernseher und anderer moderner Unterhaltung war das Spiel
mit musikalischen Metaphoren vielleicht nicht immer nur zum Lobe Gottes
gedacht- ein musikalisches Rätsel mit verschlüsselten Hinweisen zur
Lösung war sicherlich auch eine angenehmer Zeitvertreib im Kreise von
Familie und Freunden. Und hier finden wir plötzlich eine interessante
Verwandtschaft zwischen diesen komplizierten augenmusikalischen Kompositionen
und den Scherzliedern des Mittelalters, in denen "verkehrte Welt" vorgespiegelt
wird: Lachse sitzen in den Baumkronen, und Füchse wiegen kleine Kinder
in den Schlaf; es singen die Toten und die Königin muß Schuhe neu besohlen.
Per
Mattsson ©
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