Schweden
und Russland haben im Laufe der Geschichte mehrere Kriege ausgefochten.
Seit 1999 haben die schwedische Gruppe Ensemble Laude Novella
und die sibirische Gruppe Insula Magica mit einem gemeinsamen
Projekt gearbeitet, Echos von Poltava, in dem paradoxalerweise die Feindschaft
der Vergangenheit die Grundlage für unsere heutige Zusammenarbeit
darstellt.

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Nach
der schwedischen Niederlage in der Schlacht bei Poltava (Ukraine) im
Jahre 1709 löste sich die Armee des schwedischen Königs Karl
XII auf. Jene Soldaten, die nicht auf dem Schlagfeld oder aufgrund ihrer
Verwundungen ums Leben kamen, wurden gefangengenommen und in kleinen
russischen Städten, oftmals östlich der Uralberge, interniert.
Eine wichtige „Schwedenstadt“ war die sibirische Provinzhauptstadt
Tobolsk, in der zeitweilig 1200 schwedische Kriegsgefangene lebten,
u. a. der „hoboist“ Gustav Blidström bis zum
Friedensabschluß im Jahre 1721. Er benutzte einen Teil der Zeit
in Tobolsk zum Komponieren von Märschen, Menuetten und anderen
Tänzen, die er in seinem nunmehr berühmten Notenbuch niederschrieb.
Dieses Manuskript kehrte zusammen mit Gustav Blidström nach Schweden
zurück und wird heute in der Landesbibliothek in Skara verwahrt.
Außer Menuetten, Märschen und „Polonaisen“
finden sich dort auch einige Variationen über das im 18. Jahrhundert
so beliebte Thema „Foli d’Espagne“. Daß
die Musikstücke wirklich aus dem sibirischen Exil stammen zeigen
mehrere Datierungen: über einer Polonaise steht z.B. „Toboslkj
d. 22 octob. 1715. G.B.“. Gustav Blidströms Notenbuch
enthält auch Material, das die frühe Geschichte des „schwedischen“
Nationaltanzes Polska beleuchtet. Dieser polnische
Nachtanz im Dreiertakt war im gesamten Ostseeraum sehr beliebt.
Die Tänze
von Gustav Blidström wurden für uns der Ausgangspunkt, die
russisch-schwedischen Verbindungen auf musikalischem Gebiet im Laufe
der Geschichte genauer zu untersuchen. Propaganda war zu jener Zeit,
genau wie heute, ein wichtiger Bestandteil der Kriegsführung. Am
Anfang des großen nordischen Krieges war Schweden recht erfolgreich,
und der Sieg über Russland bei Narva im Jahre 1700 hat zu mehreren
Liedern inspiriert, z.B. 'Sveriges fägneljud',
in dem der Kriegsablauf mit burleskem Humor geschildert wird. Nach dem
Sieg über den Zaren waren die Russen in schwedischen Augen nicht
mehr wert als Mull, und dass der Kriegsgesang der Soldaten „Med
Guds hjälp vilja vi strida“ (Mit Gottes Hilfe wollen
wir streiten) hier als Refrain gesungen wird, wurde zu jener Zeit wahrscheinlich
als passend aufgefaßt.
Interessanter-
(und verständlicher-)weise gab es ähnliche Propaganda natürlich
auch auf der russischen Seite, über die grausamen und unzuverlässigen
Schweden. Eine Person, die auf diese Weise besungen und verspottet wird,
ist der ukrainische Kosackenführer Mazepa, der sein Heimatland
verriet als er sich mit den Schweden aliierte. Jedenfalls ist dies die
Meinung des Autors der Texte in 'O ve Mazepa'
und 'Han flyr' (Er flieht). Heute wird Mazepa
in der selbstständigen Ukraine eher als Held betrachtet.
Doch
der Feldzug Karl XII zog sich in die Länge, und unendlich viele
Abende verbrachte man am Lagerfeuer. Vielleicht erklangen im Lager des
Regimentes von Dalarna die Melodien und Weisen der Heimat, wie z.B.
das Lied 'Femtusen man' (Fünftausend
Mann) oder eine Polska. Natürlich gab es in der Poltava-Armee
Soldaten mit musikalisch-militärischen Aufgaben, z.B. Trompeter,
aber auch Oboisten und Trommler, die z.b.zum Signalieren gebraucht wurden;
außerdem gab es andere musikalisch Bewanderte, die eher zum Vergnügen
musizierten, auf Violinen und anderen Instrumenten.
In der
Gefangenschaft mußten die Schweden für ihren Lebensunterhalt
selber sorgen, sie arbeiteten u.a. als Handwerker, als Lehrer oder Baumeister.
In Tobolsk sind bis heute einige Bauwerke aus der Schwedenzeit erhalten,
und die schwedischen Ingenieure änderten den Lauf des Flusses Lena,
so daß die Stadt von den enormen Problemen der Erosion verschont
blieb. Auch Musikunterricht, Instrumentenbau sowie Tanz- und Theaterveranstaltungen
gehörten zu den Arbeitsbereichen der Gefangenen (dabei kam dann
vielleicht das Notenbuch von Gustav Blidström zur Anwendung).
Winblad
von Walter zufolge wurde die Benderpolskan
beim Überqueren der Düna im Jahre 1701 von dem Soldaten und
Violinisten Johan Svart (gefallen bei Liesna 1708) komponiert, doch
diese Polska wurde auch bei Bender gespielt und daher der Name.
Die Sinclairvisan
wurde mit Bezug auf ein bemerkenswertes Ereignis komponiert, nämlich
den Mord an dem schwedischen Offizier Malcolm Sinclair, der im Jahre
1739 bei Breslau von russischen Soldaten überfallen wurde. Das
Lied ermahnt die Schweden, den Tod des Major Sinclair zu rächen
und vielleicht auch Vergeltung für die verheerende Niederlage bei
Poltava zu fordern. Die Melodie ist die gleiche wie in Gustav Blidströms
Foli d’Espagne.
Der
Friedensabschluß im Jahre 1721 wurde trotz harter Auflagen in
Schweden sehr gefeiert, und in Karlshamn schrieb der dortige Stadtmusikant
Gottfried Lindemann zu diesem Anlaß eine Friedenskantate,
die an dieser Stelle auch die Freude in der nun schwedischen Provinz
Schonen über das Ende der Großmachtspläne symbolisieren
soll.
Per
Mattsson ©
Ur
1700-talets sibiriska musikhistoria - artikel von Anna
Nedospasova
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