Als
Bewohner eines nördlich gelegenen Landes findet man es geradezu
überraschend, dass auch die Menschen im Mittelmeerraum die Ankunft
des Frühlings und des Monats Mai so heiß ersehnen wie wir
selber. Wenn wir uns warm eingepackt und dennoch frierend am Walpurgisfeuer
treffen, um den Winter zu verabschieden, meinen wir, es sei schon Hochsommer
in Rom, Avignon oder Barcelona.
Seit
dem Mittelalter, seit den okzitanischen Troubadouren im 12. Jahrhundert,
ist jedoch auch in Südeuropa der Monat Mai als echter Frühlingsmonat
gefeiert und besungen worden, und das soll die Musikauswahl auf dieser
CD illustrieren: Lieder und Instrumentalmusik aus dem späten 14.
und frühen 15. Jahrhundert. (Guillaume Legrant ist der einzige
Komponist in unserer Auswahl, der den April als den adäquaten Monat
zum Blumenpflücken vorschlägt, doch wahrscheinlich nur, um
kommende Maifeierlichkeiten vorzubereiten…)
Die Jahrzehnte
um die Jahrhundertwende 1400, in denen solch eine Menge polyphoner Mailieder
entstanden, waren eine wirklich stürmische Periode in der Geschichte
Europas, ob man sie als "unglücksbringend", "fatalistisch
und morbide" (Barbara Tuchman in ihrem Bestseller "Der ferne
Spiegel") oder als "kulturelle Erntezeit" und kurz danach
im 15.Jh. als "Herbst des Mittelalters" (Johan Huizinga) bezeichnet.
In dieser
Zeit des hundertjährigen Krieges und des Schismas der Päpste
waren die politisch wichtigen Persönlichkeiten im südlichen
Europa berühmte, extravagante und rücksichtslose Feudalherren
wie Gaston Phoebus von Foy, Jean von Berry, Giangaleazzo Visconti und
die Könige von Aragonien, Navarra und Zypern. Sie alle waren bedeutende
Musik-Mäzenaten wie auch die Gegenpäpste in ihrem mächtigen
Palast in Avignon, von Petrarca herablassend "Babylon" genannt.
Alle
diese Herren waren auf dem Gebiet der Musik und der Poesie geschult
und erfahren, doch im Gegensatz zu ihren okzitanischen Vorgängern
im 12. Jahrhundert komponierten sie nicht selber, sondern verpflichteten
dafür auserwählte professionelle Komponisten. Der Chronist
Froissart berichtet, daß Gaston Phoebus gern 'seine Kleriker singen
und harmonisieren ließ, sowohl rondeaux und virelais.
Er verbrachte oftmals ungefähr zwei Stunden zu Tisch, und er hatte
viel Vergnügen an seltsamen intermezzi, und nachdem er sich daran
erfreut hatte, ließ er dieselben an den Tischen der Ritter und
Kavaliere wiederholen.' Johan, der König von Aragonien, legte seinen
Botschaftern nahe, nicht nur "six bons xantres" (sechs gute
Sänger) zum Dienst in seiner Kapelle zu senden, sondern sich auch
zu versichern, dass diese 'die komplette und vollständige Musik
für die Messe bei sich führten und ein Buch mit vielen motets,
rondeauz, ballades und virelais.'
Die
führenden Sänger und Komponisten der Generation nach Guillaume
de Machaut scheinen in Anbetracht ihres extrem komplexen und manieristischen
Musikstils perfekt in dieses romantische Bild zu passen. Von der Nachwelt
wurde er ars subtilior genannt: der subtile Stil, der die Grenzen
der expressiven und rhythmischen Erfindungen der Ars Nova des
14. Jahrhunderts überschreitet.
Einige
der Stücke auf dieser CD fallen mit ihren langen und unregelmäßigen
melodischen Linien, chromatischen Harmonien und widerspenstigen Taktarten
in die Kategorie der ars subtilior. Als Kontrast dazu finden
sich auf unserer CD einige von der Konstruktion her anspruchslosere
Mailieder, die sich durch große Virtuosität auszeichnen und
in denen auf realistische Weise der Frühling mit Hilfe von Imitationen
von Nachtigall, Kuckuck und Lerche beschrieben wird. Dieses Repertoire
hat vermutlich mehr Beziehungen zu bürgerlichen Kreisen in Paris
und den nördlichen burgundischen Gebieten als zu dem zentralen
"manieristischen" Milieu der päpstlichen Residenz in
Avignon. Vielleicht kann man die realistischen Szenen in den berühmten
Monats-Illuminationen "tres riches heures", von den
Gebrüdern Limbourg für Jean von Berry gefertigt, als bildliche
Parallelen dazu auffassen.
Der
Grund sowohl für den komplexen ars subtilior- Stil und die
realistischen Mailieder war schon zu Anfang des Jahrhunderts von Philippe
de Vitry gelegt worden, der in seinem Traktat Ars nova (die Neue
Kunst) neue Möglichkeiten zum Notieren von Rhythmen einführte
und damit neue Voraussetzungen schuf. Die andere stilbildende Gestalt
war Guillaume de Machaut, völlig dominierend auf dem Gebiet des
spätmittelalterlichen polyphonen weltlichen Liedes, das auf die
traditionellen Tanzformen rondeau, virelai und ballade
zurückgeht.